„Wir haben etwa 300 Leichname pro Tag versorgt“
Nach dem verheerenden Erbeben in der Türkei und Syrien flogen viele Rettungshelfer in die Region. Doch auch Bestatter wurden dort gebraucht. Michael Keunecke aus Wesel war einer von denen, die dort geholfen haben.
Drei kleine Mädchen, zwischen drei und neun Jahren alt, stehen plötzlich vor ihm. Sie sind dünn gekleidet, obwohl es immer noch kalt ist. Ihre Füßchen stecken in einfachen Schluppen. „Wir suchen unsere Eltern“, erklären die verzweifelten Geschwister dem mitgereisten Dolmetscher. In dem Moment wird Michael Keunecke bewusst, dass es kein Wiedersehen mehr geben wird. Dass die Eltern tot sind, ums Leben gekommen bei der gewaltigen Erdbeben-Katastrophe in der Türkei, aufgebahrt in einer großen Sporthalle, die nun als provisorische Leichenhalle dient.
Bestatter im Erdbebengebiet: Der 41-Jährige, der das 1993 von seinem Vater gegründete Bestattungsinstitut in Wesel seit 2004 führt, kann die schrecklichen Bilder nicht vergessen. Keunecke schloss sich bereits 2009 dem Verein „DeathCare Embalmingteam Germany“ an, reiste jetzt für eine Woche zusammen mit 15 weiteren Bestattern aus ganz Deutschland ins Epizentrum Kahramanmaras.
Sein ehrenamtlicher Job war nichts für schwache Nerven: tote Körper im Akkord säubern, mit speziellem Desinfektionsmittel besprühen, um der Seuchengefahr vorzubeugen. „Wir haben etwa 300 Leichname pro Tag versorgt“, erzählt Keunecke. Und weiter: „Was ich dabei erlebt habe, übersteigt alles Bisherige.“
Der zweifache Familienvater –Tochter Leni ist drei, Sohn Michel sieben – hat sich vor einiger Zeit für die Zusatzausbildung als Thanatopraktiker entschieden. Er kann ein ästhetisch und hygienisch einwandfreies Aufbahren eines Verstorbenen gewährleisten. Die meisten der 15 mitgereisten Bestatter verfügen ebenfalls über dieses zusätzliche Können. Keunecke und seinen Kollegen, deren Flugkosten von der türkischen Regierung übernommen wurden, war es besonders wichtig, die Würde der Verstorbenen zu wahren. Als Bestatter sind sie mit fremden Bestattungsritualen ohnehin vertraut. „Das haben wir während unserer Ausbildung gelernt.“
Über Frankfurt ging es zunächst nach Istanbul, von dort weiter per Flugzeug ins Katastrophengebiet Kahramanmaras. Die Landung ziemlich holprig, dann weiter im Bus. Es ist schon dunkel, Michael Keunecke schaut aus dem Fenster. Graue Schuttberge ziehen an ihm vorbei. Aber: „Wir dachten, wir kommen in ein komplettes Chaos. Das war nicht der Fall.“ Den Vereinsmitgliedern – alle sind selbständige Bestattungsunternehmer – wird eine große Sporthalle als vorübergehender Arbeitsplatz zugewiesen. Hier liegen die Leichname auf Decken. Hier hilft das deutsche Team beim Identifizieren durch Fingerabdrücke, Tätowierungen, Kleidung oder mit Hilfe des Zahnstatus. Keunecke: „Bei einigen hatte der Verwesungsprozess schon eingesetzt.“
Das mitgenommene Zelt zum Übernachten ist auf dem Flug verschwunden, sie kommen in einer Bibliothek unter, nur fünf Minuten von der Sporthalle mit den aufgebahrten Opfern entfernt. Während die Hoffnung auf weitere Überlebende von Tag zu Tag kleiner wird, gewöhnen sich Keunecke und sein Helfer-Team an ihren neuen Tagesablauf: morgens nicht duschen, weil es in der Bibliothek keine Duschen gibt, nur schnell die Zähne putzen. Dann 300 Leichname säubern, desinfizieren, bei der Identifizierung helfen. Abends kurze Telefonate mit Ehefrau Kathrin (40) zu Hause in Wesel. „Das klappte gut. Ich hatte ein stabiles Handynetz, aber zu wenig Zeit zum Telefonieren.“ Warme Mahlzeiten gibt es in einer der vielen Straßenküchen – Döner, Köfte, Erbsensuppe mit orientalischen Gewürzen. Keunecke spürt, wie gut es tut, in der schlimmen Situation etwas Warmes im Magen zu haben.
Er spürt auch immer wieder die tiefe Dankbarkeit und große Freundlichkeit der Bevölkerung von Kahramanmaras, der Stadt, die vor dem entsetzlichen Erdbeben berühmt war für ihr spezielles Speiseeis. Nach dem siebentägigen Einsatz fliegt das Team nach Hause, es wird ausgetauscht gegen eine zweite Helfertruppe. „Die Zusammenarbeit war einfach toll. Aber wir sind alle Alphatierchen und haben unsere eigenen Firmen.“
Keunecke plant, in einigen Jahren wieder ins türkische Kahramanmaras zu reisen. Weil er die Gesichter der Menschen nicht mehr vergessen kann. Die drei kleinen Schwestern, die umher irrten auf der Suche nach ihren Eltern. Die traurigen Augen der Erwachsenen, die alles verloren hatten. Häuser, die eingestürzt waren wie Spielkarten. „Dort wird mit zu viel Sand gebaut.“